Neurologische Rehabilitation von Kindern mit Hirnschädigung im ersten und zweiten Lebensjahr - Das Berliner Modell

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von Dagmar Siebold, Sabine Rickensdorf

Ausgehend von den Erfahrungen mit der Konduktiven Pädagogik Anfang der neunziger Jahre in London (England) versuchen wir kontinuierlich, die wesentlichen Voraussetzungen für das Bewegungslernen von Kindern mit Himschädigung herauszufinden. Uns liegt besonders die Arbeit mit Kindern im ersten und zweiten Lebensjahr am Herzen, da die frühe Förderung eines Kindes entscheidend für sein gesamtes weiteres Leben ist. Die Plastizität des Gehirns eröffnet uns in den ersten zwei Lebensjahren Möglichkeiten in einem nie wieder erreichbarenUmfang.

Bevor sich das Kind pathologische Bewegungsabläufe angeeignet hat, können wir ihm in dieser Zeit Alternativen bieten. Dabei spielen Intensität der Förderung sowie Reduktion und Repetition der Bewegungsabläufe eine entscheidende Rolle. Für den Erfolg ist neben der professionellen Intervention die Kompetenz der Eltern maßgebend. "By giving the mother an understanding of the child's problem and building up her confidence she can now use her innate ability as a mother and become the best teacher for her child" (SEGLOW 1992).

Nach dem Berliner Modell unterscheidet sich daher die Förderung von Kindern mit neurologischen Störungen wie der Infantilen Zerebralparese (spastische, ataktische, dyskinetische) und Hypotonie-Syndromen in den ersten bei den Lebensjahren von der in den darauffolgenden Jahren. In diesem Zeitraum beschränken wir uns zuerst auf das Erlernen der Basic Motor Pattern und deren Anwendung. Wir verstehen darunter jene Bewegungen, welche essentiell nötig sind, damit ein Kind selbstständig zur Aufrichtung und zum Gehen gelangen kann. Damit knüpfen wir an die Arbeit von Ester COITON an, die das System der Konduktiven Pädagogiketablierte.

Lernen

Der gesunde Säugling entwickelt sich nach einem genetisch festgelegten Programm zum Kleinkind, welches sich allein fortbewegen, selbstständig sprechen, essen und spielen kann, ohne dass es einer besonderen Anstrengung von außen bedarf. Er gibt den Rhythmus der Entwicklung vor, welchem auch unerfahrene Eltern folgen können.

Dagegen sendet das Baby mit einer neurologischen Störung unzureichende Signale, auf welche Mutter und Vater nur bedingt reagieren können. Ohne Unterstützung verharrt es auf seinem neurologisch frühen Entwicklungsstand und kann nicht automatisch die sensomotorische Entwicklung durchlaufen. Vielmehr bleibt es häufig in typischen (nach Schädigungsumfang variierenden) "motorischen Sackgassen" stecken und kann keine Bewegungsfreude entwickeln. Um dies zu verhindern, benötigt das betroffene Kind eine oder mehrere Bezugspersonen, die gelernt haben, Angebote und Umgebung so anzupassen, dass es sich trotz seiner Schädigung entwickeln kann. Die Bezugspersonen werden in die Lage versetzt, im Alltag selbstverständlich für die nötigen Repetitionen zu sorgen. Es entsteht mehr Zufriedenheit in der Interaktion zwischen Eltern und Kind, weil in einem überschaubaren Zeitrahmen Entwicklung sichtbar wird.

Motorische Sackgassen und ihre Folgen

Nicht die Spastizität, Hypotonie oder die Störung der Bewegungssteuerung an sich verhindern die Bewegungsentwicklung. Das Hauptproblem der sich nicht entwickelnden Motorik ist, dass die Kinder unabhängig von der Art und Schwere der motorischen Störung nicht zum Bewegungsplan kommen. Ohne einen Bewegungsplan manövrieren sie sich in "motorische Sackgassen", in denen das Bewegen nicht ökonomisch, sondern sehr anstrengend ist. Die Kinder schaffen es alleine nur sehr spät oder gar nicht, sich aus den "Sackgassen" zu befreien. Oft wird ihnen an dieser Stelle in guter Absicht ein Hilfsmittel angeboten, welches eine Weiterentwicklung jedoch verhindert. "Motorische Sackgassen" sind auf lange Sicht außerdem Wegbereiter von Kontrakturen, Luxationen und Deformitäten. Sie verhindern eine gute handrnotorische Entwicklung. Deshalb vermeiden wir es, das Bewegen in solchen "Sackgassen" zuzulassen oder gar zu üben, auch wenn wir den Kindern damit ihre scheinbare Mobilität erst einmal nehmen.

Hier einige Beispiele für motorische Sackgassen:

Abb. 1: Lagerung als Sackgasse:
"Bauchlage über einen Keil"
  • Robben/Kriechen:
    Es entstehen Ellenbogen- Flexionskontrakturen, Adduktionskontrakturen sowie die Gefahr der Hüftluxation. Der Handstütz und damit das Krabbeln und die sich anschließende selbstständige Vertikalisierung werden verhindert bzw. zumindest massiv verzögert. Robben als Variation innerhalb der ungestörten motorischen Entwicklung hat keine derartigen negativen Auswirkungen.
  • Einarmiges Robben:
    Es ist Wegbereiter für Skoliosen und einseitige Hüftluxationen. Bei hemiparetischen Kindern erfolgt eine Tonussteigerung im betroffenen Arm (Hand) und Bein. Kontrakturen in Schulter, Ellenbogen, Hand sowie Hüfte, Knie und Sprunggelenk entstehen. Die Neglectproblematik wird verstärkt. Es verhindert Krabbeln, damit wird die Vertikalisierung verzögert.
  • Schieben in Rückenlage:
    Drehen in Bauchlage wird verhindert. Gleichgewichts- und Stellreaktionen können sich nicht ausbilden. Die Vertikalisierung ist blockiert. Es resultieren Schädeldeformitäten, Hüftluxationen, Kontrakturen.
  • Kniegang:
    Er ist beschwerlich. Es kommt zu Kontrakturen der ischiocruralen Muskulatur und Hyperlordose. Die Kinder entwickeln oft Angst vor der Höhe im Stand, die Vertikalisierung wird unnötig verzögert. Gleichgewichtsreaktionen der Beine erfolgen nicht.
  • "Porutschen" als Fortbewegung:
    Abb. 2: Zu frühe Hilfsmittelversorgung:
    B. (mit spastischer Athetose nach Asphyxie;
    es bestehen bereits Kontrakturen
    der Beine und Füße), mit 16 Monaten
    bei Behandlungsbeginn

    - Hemiparetische Kinder setzen sich nur über die gesunde Seite auf und belasten beim Rutschen nur die gesunde Seite. Der Tonus in den hemiparetischen Extremitäten erhöht sich. Fehlendes Stützen auf dem hemiparetischen Arm führt zu eingeschränktem Längenwachstum desselben, zu Kontrakturen, Skoliose und verstärkt den Neglect.
    - Bei Frühgeborenen mit Diparese verstärkt sich die Abduktions-Flexionskontraktur. Die resultierende mangelnde Aktivität in der Extension und Adduktion erschwert das Stehen und Gehen.
  • Beispiele für Lagerung als Sackgasse:
    - Die Bauchlage über eine Rolle / einen Keil ist sehr anstrengend. Spielen in dieser Haltung ist nicht lange möglich. Die Kinder können aus dieser Position nicht allein heraus und geben es schnell auf, den Kopf zu heben (Abb. 1).
    - Seitlagerung verhindert die Entwicklung der Gleichgewichtsreaktionen. Auch diese Position ist sehr statisch.
  • Beispiele für zu früh eingesetzte Hilfsmittel:
    - Bauchschrägliegebrett, Stehbrett, Therapiestuhl etc.: Die Kinder lernen, dass sie passiv von einer Situationin eine andere gelangen. Sie können nicht selbst entscheiden,die Situation zu verlassen. In einem Hilfsmittel fixiert, hat die eigene Aktivität keine Konsequenzen. Dadurch wird das Lernen der Bewegungskontrolle umfassend verhindert (Abb. 2).
    - Laufgerät mit Sattel: Es erlaubt den Kindern, sich ohne Gleichgewichts und Bewegungskontrolle, teilweise in der Schreitreaktion und häufig ohne Einsatz der Hände fortzubewegen. Es kommt zu keiner Gewichtsübernahme. Ein solches Laufgerät ist grundsätzlich nicht für Kinder geeignet, die das Gehen mit oder ohne Unterstützung erlernen könnten.

Damit die Kinder trotz ihrer Hirnschädigung und den einhergehenden Problemen schnell zu einem Bewegungsplan kommen und sich so bewegen lernen können, "durchlaufen" wir systematisch die Basic Motor Pattern. Diese werden auf das notwendige Minimum reduziert. Wir versuchen dies hauptsächlich in der häuslichen Umgebung zu tun, so dass das Üben sowohl von den Eltern wie auch vom Kind nicht als künstliche Therapiesituation wahrgenommen wird, sondern ohne Anstrengungin das tägliche Leben eingebaut werden kann.

Die Fördersituationen finden in den ersten beiden Jahren nicht in der Gruppe statt; beteiligt sind das Baby, die Eltern und der/die Therapeut/in/Konduktor/ in. Wie ein gesundes Kind lernt der Säugling mit einer Himschädigung in der Interaktion mit den Eltern sowie durch das Spiel mit dem eigenen Körper und seiner Umgebung. Anstelle des rhythmischen Intendierens treten die Aktivitäten begleitenden Singspiele. Die Aktivitäten des täglichen Lebens beschränken sich überwiegend auf das Trinken, Essen und Spielen. Es würde den Rahmen sprengen, auf die verschiedenen Formen der Facilitation einzugehen, wenngleich sie einen wesentlichen Anteil am Erfolg der Förderung ausmacht.

Die Basic Motor Pattern / Bewegungslernen

Abb. 3a-d
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Zuerst lernen die Kinder das Spiel mit den Händen in Rückenlage. Angestrebt wird das Spiel der Hände miteinander, später das Greifen von Spielzeug und In-den-Mund-Führen. Über das Spiel mit den Händen erreichen die Kinder die Orientierung zur Mitte und lernen, ihren Körper zu kontrollieren. Die Stabilität der Rückenlage wird durch die Aktivität der Hände erreicht und nicht umgekehrt. Handfunktion entwickelt sich nicht aufgrund von Rumpfstabilität (Abb. 3a-3d).

In dieser Phase bietet sich für Kinder, die mit der Flasche gefüttert werden, die Gelegenheit, beide Hände mit Hilfe der Mutter an der Flasche zu halten und so die Aktivität der Hände mit der Nahrungsaufnahme schon früh zu verknüpfen. Es kommt zu vielen Wiederholungen der Situation, weil auch die Mutter diese Art des Fütterns automatisiert (Abb. 4).

Um ein Spiel mit den Händen zu ermöglichen, wenn keine Bezugsperson dabei ist, werden die Kinder in einem Corpomedsack gelagert. Beim Stützen auf die Unterarme in Bauchlage und der Gewichtsverlagerung auf eine Seite, um mit einer Hand zu spielen, trainieren die Kinder Kraft und Gleichgewicht als Voraussetzung für die nächsten Entwicklungsschritte. Für eine kurze Zeit überwiegen die genannten größtenteils statischen Positionen in der Förderung. Im Unterschied zu allen folgenden Entwicklungsschritten wird hier ersteinmal das Halten und noch nicht das Einnehmen und Verlassen der Position geübt.

Abb. 4: E. lernt die Hände an der
Flasche zu halten; die Situation
wiederholt sich täglich mehrere Malen

Danach beginnen wir das Drehen von Rücken- in Bauchlage zu erarbeiten. Die Aktivität ist immer gekoppelt mit der Erlahrung, ein Spielzeug zu sehen sich selbst hinzubewegen - zum Spielzeug zu gelangen - mit dem begehrten Objekt zu spielen. Das Kind wird durch das Spiel für seine Anstrengung belohnt. Das führt zu der Erfahrung "ich kann". Unser Ziel ist es nicht, das Drehen als Fortbewegung zu erarbeiten, sondern es dient nur dem Positionswechsel, damit das Kind die Bauchlage häufig einnimmt.

Verhindert ein zu hoher Muskeltonus die Bewegungsentwicklung, veranlas-sen wir sehr früh eine Behandlung mit Botulinumtoxin nach dem Key-Muscle-Conzept (PLACZEK 2007). Entsprechend der Bewegungsentwicklung beginnt die Behandlung häufig mit einer Injektion in den Armen, wenn Spielen und der Handstütz aufgrund zu hoher Biceps-oder Tricepsspannung verhindert werden.

Um den Langsitz erreichen und auch mit gestreckten Knien stehen zu können, ist oft eine Behandlung der ischiocruralen Muskulatur angezeigt. Sich bewegen muss so leicht wie möglich sein, damit es zu den nötigen Repetitionen kommt. Weiterhin dient die Behandlung der Adduktoren zur Luxationsprophylaxe für die Hüftgelenke. Zusätzlich werden manuelle Techniken (Dehnen, Manuelle Therapie) zur Kontrakturprophylaxe eingesetzt.

Die größten Schwierigkeiten haben die Kinder, in die zweite und dritte Etage der Aufrichtung zu gelangen. Damit sind der Handstütz mit gestreckten Ellenbogen, der Übergang in den Vierlüßlerstand und dann in den Langsitz sowie zurück in den Vierfüßlerstand (Abb. 5a-5g) und das sich anschließende Krabbeln gemeint. Diese sind aber unabdingbar, um selbstständig den Stand und Gang zu erreichen. Wir üben nicht das Halten der Sitzposition. Stattdessen lernen die Kinder, sich hinzusetzen, in der Sitzposition zu explorieren und diese wieder zu verlassen, wenn das Spiel beendet ist, als gesamten Ablauf.

Wenn ein Kind aufgrund der hohen Spastizität der ischiocruralen Muskulatur den Langsitz nicht einnehmen und dort ohne Anstrengung spielen kann, bieten wir ersatzweise den Zwischenfersensitz an. Ein Umdenken diesbezüglich ist notwendig, weil die Kinder ohne eine höhere Spielposition, in die sie selbstständig gelangen und die sie auch wieder verlassen können, nur die Möglichkeit hätten, in Bauchlage oder Rückenlage zu spielen.
Beidhändiges Spiel in Bauchlage ist nur sehr eingeschränkt möglich; die handmotorische Entwicklung wird behindert. Spielen in Rückenlage ist wegen der Einwirkung der Schwerkraft und aufgrund der Perspektive für die Kinder auf Dauer unattraktiv. Sowohl in Bauchlage als auch in Rückenlage können sich Gleichgewichtsreaktionen nicht weiterentwickeln. Können wir erst jenseits des ersten Lebensjahres mit der Förderung beginnen, beginnen wir manchmal, gleich den Handstütz und den Vierlüßlerstand zu erarbeiten, damit die Kinder nicht noch längere Zeit auf dem Boden verweilen müssen.

Abb. 5a-g
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Um zu entfernterem Spielzeug oder Bezugspersonen gelangen oder sich wegbewegen zu können, benötigt das Kind das Krabbeln. Wir üben dies zunächst mit viel Hilfe (teilweise unter Einsatz von Armstreckschienen), die wir zügig reduzieren, bis das Krabbeln allein möglich ist. Zumindest kurze Strecken müssen krabbelnd überwunden werden können, wenn das Kind selbstständig aufstehen will.
Unsere Erlahrung hat gezeigt, dass ein Kind, welches nicht in den Vierfüßlerstand kommt und krabbelt, es nicht schaffen wird, sich an Gegenständen / Möbeln festzuhalten und in den Stand zu ziehen. Anscheinend gehört zum Gesamtbewegungsplan des Aufstehens der Zwischenschritt Vierlüßlerstand, auch wenn bei gesunden Kindern späteres Laufen ohne diesen Zwischenschritt möglich ist.

Nach Erreichen der Basic Motor Pattern erarbeiten wir mit dem Kind das Stehen und Gehen mit oder ohne Hilfsmittel. Das Hochziehen an Möbeln, Stehen mit Festhalten und sich wieder aufden Boden Setzen sind durch die bis dahin erarbeiteten handmotorischen Fähigkeiten (Greifen und Loslassen) nun relativ einfach, müssen aber dennoch repetitiv geübt werden. Die Spielsachen, die als Motivation dienen, sind im gesamten häuslichen Umfeld so angeordnet, dass das Kind immer aufstehen muss, um sie zu ergreifen. Außerdem möchte sich das kleine Kind an seinen Bezugspersonen hochziehen. Anstatt es einfach hochzunehmen, bieten sie dem Kind so wenig Hilfe wie möglich an. Das Gefühl, es selbst geschafft zu haben, ist für die Kinder eine große Belohnung. Der Aktionsradius erweitert sich schnell, indem wir mit den Kindern trainieren, seitwärts an den Möbeln entlang zum gewünschten Objekt zu laufen. Hoch-und Runtergehen sowie Seitwärtslaufen werden miteinander verknüpft. Anschließend lernen die Kinder, kleinere Abstände zwischen Gegenständen zu überwinden. Hierzu müssen sie lernen umzugreifen.

Der Alltag

Zu Hause gibt es für die Kinder eine große Motivation, auf das Sofa zu klettern, sich hinzusetzen und bei Bedarf zurück auf den Boden zu gelangen. Dazu zeigen wir dem Kind, wie es sich umdrehen und rückwärts vom Sofa hinunter schieben kann. Hier werden die oben beschriebenen Bewegungsübergänge "Vierfüßlerstand-Sitz-Vierfüßler" benutzt, wiederholt und können vom Kind in seinen Lebensalltag übertragen werden. Vom Sofa aus möchte es vielleicht zum Tisch, greift hinüber etc.
Eingebettet in Handlungsabläufe des Alltags lernen und automatisieren die Kinder das Stehen und Gehen: "Ich gehe in die Küche, weil die Mama auch dort ist." Die Kinder sollen das Laufen nicht als Übung, sondern als Selbstverständlichkeit erleben. Dabei spüren sie nicht vordergründig die Anstrengung, diewird.

Abb. 6a und 6b
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Wir versuchen, viele sich wiederholende Gelegenheiten zu finden, in denen die Kinder sich bewegen. Beispielsweise nutzen wir beim An- und Ausziehen sowie beim Sauberkeitstraining auf dem Töpfchen den Wechsel zwischen Sitzen und Stehen (häufig verleitet die geringe Körpergröße der Kinder in diesem Alter die Bezugspersonen dazu, solche Tätigkeiten weiterhin auf der Wickelkommode zu bewerkstelligen).

Beim Essen lernen die Kinder zu sitzen. Wir benutzen also die Situation des Essens, das Sitzen zu lernen. Gleichzeitig wird die Hilfe beim Essen und Trinken schrittweise reduziert, bis die Kinder selbstständig essen und trinken können. Von Anfang an erhalten die Kinder Assistenz beim Essen, an statt passiv "gefüttert" zu werden (Abb. 6a u. 6b).

Repetition und Reduktion

Die Umsetzung in den Alltag ist die Grundlage für die nötigen Repetitionen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass sowohl Eltern als auch Erzieher nicht in der Lage sind, die Handhabung der Kinder vom einmaligen Beobachten zu übernehmen. Vielmehr müssen sie sie immer wieder unter Anleitung anwenden, so dass es auch bei ihnen zur Automatisierung kommt. Anderenfalls bleibt die Handhabung schwer und wird vermutlich nicht in den Alltag umgesetzt.

Ein hirngeschädigtes Kind schafft genau diese Übertragung des Gelernten in den Alltag nicht allein. Ein bereits eingeübter Bewegungsablauf kann nicht ohne weiteres in einer anderen Situation abgerufen werden, bevor ihn das Kind nicht automatisiert hat: "it is the mother who teaches the child to sit, to walk, talk and live" (FORRAI 1999). Für Kinder mit neurologischen Störungen stellt Variation ein außerordentliches Lernhindernis dar. Die Kreativität der Behandlung liegt in der Veränderung des Spielangebotes zur Motivation, jedoch keinesfalls in variierenden Bewegungsangeboten. Der Erfolg basiert auf der größtmöglichen Reduktion der Bewegungspattern und der andauernden Repetition bis zur Automatisierung. Erst dann kann das Kind lernen, die Bewegungen zu variieren, zu ökonomisieren und in unterschiedlichen Umgebungen anzuwenden.

Das Bewegungslernen ist prinzipiell unabhängig von den intellektuellen Möglichkeiten der Kinder. Ein mangelndes Interesse an Spiel, z.B. aufgrund einer geistigen Behinderung, verlangsamt nur das Lerntempo. Häufig geht eine Zunahme der motorischen Fähigkeiten mit einer Erweiterung der Kognition und Sprachentwicklung einher. Sicherlich gibt es Kinder, deren Schädigungsgrad motorisches Lernen ungleich erschwert bis fast unmöglich macht. Da sich aber aus unserer Erfahrung manche negative Prognose nicht bestätigt hat, sollte man immer einen Versuch starten.

Für alle motorischen Entwicklungsschritte gibt es Zeitfenster, in denen das Lernen verhältnismäßig leicht ist. Sind diese einmal verpasst, kann das Bewegungsmuster nur bedingt erlernt werden, da veränderte Hebelverhältnisse des Körpers, sich ausbildende Kontrakturen und die Überwindung der Schwerkraft stark erschwerend wirken.

Gelangt ein Kind zum Beispiel erst jenseits des zweiten Lebensjahres in den Handstütz, verhindert die Länge der Arme, dass sich der Schwerpunkt des Kindes beim Einnehmen dieser Position auf der Symphyse befindet. Dieser hat sich auf die Oberschenkel verschoben. Somit ist jetzt das Stützen nicht mehr leicht, sondern außerordentlich beschwerlich. Außerdem kommt es zur Kompression in der Lendenwirbelsäule. Alles zusammen führt dazu, dass das Kind den Handstütz nicht oft machenwird. Für das Erlernen und Harmonisieren einer Bewegung sind unzählige Wiederholungen über einen Zeitraum von zumeist mindestens 3 Monaten nötig. Dazu ist tägliches Training von 1-2 Stunden erforderlich. Innerhalb einer Fördereinheit streben wir anfänglich mindestens 7 Wiederholungen des gleichen Bewegungsablaufes an, erleben es jedoch häufig, das die Kinder 20-30 Wiederholungen schaffen. Wir trainieren bevorzugt, was das Kind alleine wiederholen kann, damit Lernen auch ohne Hilfe einer Bezugsperson möglich wird.

Verpasste Zeitfenster verhindern Repetitionen. Außerdem haben sowohl das betroffene Kind, seine Eltern als auch sein gesamtes Umfeld bereits verinnerlicht: "Ich/unser Kind kann mich/sich nicht bewegen." Ein Umdenken wird nicht leicht.

Fazit

In den ersten zwei Lebensjahren versuchen wir, mit den Kindern die motorische Entwicklung zu durchlaufen und abzuschließen. Nur in dieser Zeit besteht die Chance, Motorik primär zu erlernen, ohne bereits Gelerntes löschen und überschreiben zu müssen. Je früher wir mit der Förderung beginnen - spätestens um den 3. Lebensmonat wäre optimal -, desto größer ist die Chance, dass ein Kind trotz seiner Hirnschädigung zur größtmöglichen Selbstständigkeit gelangen wird.

Aus dem Beschriebenen könnte fälschlicherweise ein Nachahmen der ungestörten motorischen Entwicklung herausgelesen werden. Die normale spontanmotorische Entwicklung ist jedoch aufgrund der hohen Variation gerade nicht möglich. Wir erwarten nicht, dass die Kinder die Bewegungen spontan in ihr Repertoire übernehmen, sondern sie gelangen über intensives Üben und die Umsetzung im Alltag zur selbstständigen Bewegung. Die zunächst umfangreiche Hilfe wird nach und nach reduziert.

Unsere praktische Erfahrung hat uns gezeigt, dass unter den hier genannten Voraussetzungen Kinder mit Diparesen, Hemiparesen und Ataxien bzw. Hypotonien relativ schnell die motorische Entwicklung abschließen können; auch für Kinder mit schweren Tetraparesen und Athetosen wird so Bewegungslernen möglich. Damit ist der Weg zu einer aktiven Teilhabe und einem selbstbestimmten Leben bereitet.

Literatur

  • Ambühl-Stamm, D.: Früherkennung von Bewegungsstörungen beim Säugling. Neuromotorische Untersuchung und Diagnostik, Urban & Fischer 1999
  • Cotton, E.: The Basic Motor Pattern, The Spastic Society (Hg.), London 1980
  • Forrai, J.: Memoirs of the beginnings of Conductive Pedagogy and Andnis Petö, Uj Arany-hfd und Foundation of Conductive Education, Budapest, Birmingham 1999
  • Placzek, R.: Botulinumtoxin in Orthopädie und Sportmedizin, UniMed- Verlag, Bremen 2007
  • Russell, A.: Cotton, E., The Petö System, Acorn Foundation Publication 1994
  • Seglow, D.: A Pattern of Early Intervention, in: Levitt (Hg.) Paediatric Developmental Therapy, Blackwell Scientilic Publications, Oxford
  • Seglow, D., Jamieson, J.: The Mother's Role with her Cerebral Palsied Child, Homsey Centre (int. Publication), London 1993

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